Werden Mystiker in der Neuzeit rarer?
Die grosse Zeit der Mystiker scheint auf den ersten Blick in der Moderne vorbei zu sein. Und das hat auch seinen Grund. Die aufkommende Kommunikation und die Verbreitung der Medien lenken uns von der Mystik ab.
* Text von Werner Nef *
Es werden zu viele Bücher, Filme und andere Berichte veröffentlicht, da gehen die relativ wenigen Beiträge der Mystiker im ganzen Rummel verloren und das Interesse der Menschen hat eine viel grössere Bandbreite als vor 200 Jahren erhalten. Trotzdem gab es immer wieder Leute, die diese Glaubensansicht unter den Mitmenschen wachhielten und das Interesse Weniger auf sich ziehen konnten.
Gottfried Arnold (1666-1714) wirkte zu Lebzeiten mehr als Verführer und Ketzer, denn als Mystiker. Trotzdem musste man ihn ernst nehmen, denn er vertiefte sich intensiv in die altchristliche Literatur. Dabei erhob er die Urchristen zum Vorbild aller Christen und leistete so einen gewaltigen Beitrag gegen den traurigen Verfall des Christentums. Für Arnold war es wichtig, zwischen „totem Geschwätz und dem ewigen Wort des Vaters“ zu unterscheiden. Er vermisste die Sprengkraft der Universitäten und stellte fest, dass die entscheidenden religiösen Erkenntnisse von Aussenseitern kamen. Das bewog ihn, seine Professur aufzugeben und sich einem Leben als Einsiedler zu widmen. Arnold musste schmerzhaft feststellen, dass man nicht ungestraft die Schultheologen kritisieren darf, die dann schnell ihre christliche Nächstenliebe vergessen.
Gerhard Tersteegen (1697-1769) verdiente sich seinen bescheidenen Lebensunterhalt als Bandweber und lebte abgeschieden vom Lärm der Welt wie ein Eremit. In einem Brief schrieb er: „Die Gotteskinder haben drei Geburtstage“. Als ersten Geburtstag zählt die Geburt. Der wichtigste war sein zweier, den Gnadengeburtstag, seine geistige Wiedergeburt, die sein Leben in ein neues, göttliches Licht rückte. Als dritten Geburtstag verstand er seinen leiblichen Tod, der den Menschen aus seinem engen Gefängnis, der Demütigungen und der Seelengefahr des Leibes befreit und ins ewigen Leben führt.
Für Tersteegen wird der Gottsucher stufenweise durch neue Erkenntnisse emporgeführt, bis er das Licht der Gnade, die wohltuende Erlösung und Gegenwart Gottes im Zentrum erreicht. Für ihn war Gott näher, als wir uns selber sind. Seine Mystik hinterliess er in zahlreichen Schriften und Liedern. (So ist Tersteegen mit 10 Liedern und Texten in unserem reformierten Gesangbuch vertreten. Sein bekanntestes Lied ist sicher „Gott ist gegenwärtig“)
Schon als Kind begriff Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) das tiefe Gebet. Der junge Theologiestudent lernte durch einen einfachen Müller die Schriften von Jakob Böhme kennen, die ihm halfen, sein Selbst zu finden. Durch die Übersetzung der Schriften Böhmes in ein verständliches Deutsch lernte Oetinger das religiöse Denken der Mystiker und erhielt so den Blick für das Ewige. Der ernsthafte Pfarrer litt unter der kranken Kirche, welche den Leuten predigte, dass Jesus mit seinem Tod alles für uns bezahlt hat, ohne von uns eine Sinnesänderung oder Heiligung zu fordern. Aussergewöhnlich war seine Neigung zu den Toten und seine Kontakte mit der Geisterwelt. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie und dem tiefen Eindringen in die Bibel ergaben Oetingers Theosophie, eine Verbindung des Urreligiösen mit Gott, das nur der geistige Mensch verstehen kann, der in allen Dingen die Allgegenwart Gottes erkennt. Leider gelang es der evangelischen Kirche nicht, Oetingers Theosophie zu akzeptieren und man zwang sie, sich ausserhalb der Kirche anzusiedeln.
Im Teenageralter erlebte Michael Hahn (1758-1819) eine tiefe Depression, bis ihn bei der Feldarbeit eine lange Vision heimsuchte, die sich dann oft wiederholte. Er erlebte so in jungen Jahre eine Zentralschau, ein wundersames, mystisches Erlebnis, das sein Leben nachhaltig prägte. So schaute er alle Dinge aus dem Herzen, ohne direkt mit Gott zu sprechen oder Traumvisionen zu haben. Er wusste es einfach, weil es ihm so eingegeben wurde. Hahn war ein anschauliches Beispiel dafür, dass der Mensch das mystische Leben nicht aus Büchern erwirbt, sondern allein von Gott geschenkt bekommt. Das Edikt von 1743 verbot Laien zu predigen, deshalb gründete er eine evangelische Gemeinschaft, die sehr stark an einen katholischen Orden erinnerte. Ausserdem schrieb er zahlreiche Kirchenlieder.
Zu den modernen Mystikern gehört bestimmt Novalis, der sich in ein junges Mädchen verliebte, die aber kurz darauf starb. Durch diese Liebe erlebte Novalis ein ähnliches Sophia - Erlebnis wie Gichtel, für den die Sophia mehr als eine Geliebte oder Phantasieperson darstellte, sondern ein wahres Geschenk Gottes war.
Auch der dänische Philosoph Sören Kirkegaard muss mit seiner Philosophie zu den evangelischen Mystikern gezählt werden, genauso wie Friedrich Nietsche, der aber leider später vom Pessimismus überfallen wurde und sich von Gott abwandte. Auch Pfarrer Walter Nigg, der es wie kaum ein Zweiter verstand, dem modernen Menschen die Welt der Mystiker und Heiligen in seinen Schriften näher zu bringen, darf zu den Mystikern gezählt werden. Er versuchte stets die heutige Kirche zum Umdenken aufzurufen und die dringende Notwendigkeit einer Korrektur zur heimlichen Weisheit zu erwirken. Wir sollten nach ihm bei unserer seelischen Not das heimliche Ja des mystischen Lebens wieder sorgfältig pflegen damit diese unermessliche Kraftquelle das christliche Leben rehabilitieren kann.
Wir haben gesehen, dass allen Mystiker vieles Gemein ist. Alle haben eine tiefe Beziehung zu Gott, die ihnen persönliche Erkenntnisse vermittelt. Alle lieben die Stille und verachten ein lautes Leben und unnützes Geschwätz. Auch die Nichtbeachtung ihrer Lehre haben sie gemeinsam und mussten deshalb mit vielen Unannehmlichkeiten kämpfen. Dabei verloren sie nie die Liebe zu Gott. Dies sollten wir uns ganz dick hinters Ohr schreiben, damit wir von den Mystikern etwas mit auf unseren Lebensweg nehmen können, was ich ihnen von ganzen Herzen wünsche.